4 Haziran 2010 Cuma

Wo geht es hier zur Kultur? / Badische Zeitung

Istanbul ist jung und quicklebendig. Doch als Europäische Kulturhauptstadt gibt sich die Metropole wie ein Museum.


"Kulturhauptstadt? Das merkt man dran, dass der Bürgermeister die Straßen jetzt Tag und Nacht fegen lässt." Bohac Kiymaz sitzt im Istanbuler Stadtteil Pera, der früher Griechen, Armeniern und Juden eine Heimat bot, vor einer zart gegrillten Frühlingszwiebel und einem Raki und macht sich über seine Landsleute lustig. "Der Titel Kulturhauptstadt ist albern", sagt der Übersetzer. "Europäische Hauptstadt der Bauarbeiten, der Begriff wäre viel passender."

Stimmt. Besucher, die sich in diesen Tagen nach Istanbul aufmachen, stehen nicht selten vor verschlossenen Türen. Der Küchentrakt des Topkapi-Palastes – im Umbau. Die alte Loge der tanzenden Derwische – wird gerade renoviert. Die ehemalige byzantinische Kirche im Stadtteil Fathi – eine Baustelle. Immerhin: Die Haupthalle der Hagia Sophia, der ehemals größten christlichen Kirche, kann zum ersten Mal seit 17 Jahren ohne störendes Baugerüst genossen werden.

Altehrwürdige Kirchen und Moscheen, prächtige Paläste, eine einzigartige Mischung aus Ost und West, eine quicklebendige moderne Kulturszene – Istanbul hat, was eine Europäische Kulturhauptstadt zum Erfolg braucht. Eine Weltstadt ist sie mit ihren 14, vielleicht 16 Millionen Einwohnern ohnehin. Jung und vibrierend ist sie ohnehin.

Zwar ist der Titel Kulturhauptstadt für die Kultur ungefähr so wichtig wie der Eurovision Song Contest für die Musik, doch nicht wenige Kritiker in der Türkei werfen dem verantwortlichen Komitee, Herr über Programm und Budget, vor, es verkaufe eine Mogelpackung. "70 Prozent des Geldes wird für Dinge ausgegeben, die die Stadt sowieso hätte anpacken müssen." Der Löwenanteil des Budgets fließt zudem in museale, konservatorische Projekte: In die Ausgrabung eines Sultanpalastes, die Rettung jener 33 Schiffe, die vor 1200 Jahren im Hafen von Theodosius gesunken sind und jetzt beim Bau einer U-Bahn entdeckt wurden, die Renovierung von Moscheen. Die neu entdeckte Geschichte soll Identität vermitteln. Die Leidtragende ist die junge Kulturszene, sie kommt nur am Rand vor.

"Istanbul wird exotisiert und zu einer reinen Touristenhochburg degradiert", klagt zum Beispiel der Autor und Filmemacher Tayfun Serttas, 28, in der Zeitschrift Zenith. "Das sind doch alles Bemühungen, sich Europa anzubiedern!" Auch Beral Madra, 67, Kunstkritikerin und als Kuratorin viele Jahre für die erfolgreiche Istanbul Biennale verantwortlich, ist nicht zufrieden. Die Bürokratie stehe den wirklich spannenden Projekten im Weg. "Im offiziellen Programm stehen Großveranstaltungen im Mittelpunkt, die eigentlich nur für das Städtemarketing und die internationale Zurschaustellung Istanbuls nützlich sind."

Als sei man bei einer Tourismusbörse, begnügt man sich mit Klischees und Türkischer-Honig-Seiten. Präsentiert werden Folkloregruppen und Orchester, die türkisch-osmanische Hofmusik spielen. Und natürlich die (unter Atatürk verbotenen) Tänze der wirbelnden Derwische, die bereits als "Staatsballerinas" verhöhnt werden. Das erste Konzert der irischen Popgruppe U 2 in der Türkei gilt als einer der Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahrs, als Highlight wird eine Regatta historischer Schiffe auf dem Bosporus angepriesen.

Weil das rein von der Menge her nicht reichen könnte, werden Veranstaltungen und Symposien, die alljährlich in Istanbul stattfinden, mit dem Label "Kulturhauptstadt" aufgewertet – vom Formel-1-Rennen an diesem Wochenende bis zur Konferenz der Textilindustrie.

"Die Verantwortlichen denken: Wir haben den Titel. Das reicht!" Der jungen Frau auf der Fähre über den Bosporus ist es peinlich, dass sie den eiligen Besuchern nichts aus dem Kulturprogramm empfehlen kann. "Es wurde viel zu spät mit der Gestaltung angefangen." Die Istanbuler jubelten vor vier Jahren, als ihnen der Titel für das Jahr 2010 angetragen wurde. Doch von Anfang an stand die Organisation unter keinem guten Stern. Zweimal wurde der Chef des Organisationskomitees ausgewechselt. Scharen von künstlerischen Berater traten zurück. Von Korruption, Intransparenz und Provinzialismus war die Rede.

Dabei wird in Istanbul ungleich mehr Geld ausgegeben als im Ruhrgebiet und in der kleinen ungarischen Stadt Pécs, alle drei in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstädte. Offiziell sind es umgerechnet 150 Millionen Euro. Nur ein Prozent des Etats stammt – wie in allen Kulturhauptstädten – aus den Fördertöpfen der Europäischen Union, der Rest wird durch eine Zwei-Cent-Abgabe auf Benzin finanziert. Zwar listet der aufwendig auf Hochglanzpapier gedruckte Katalog mehr als 400 Projekte, Ideen und Veranstaltungen auf. Besucher müssen aber viel Zeit investieren, um in Istanbul eine dürftige Monatsübersicht zu erhalten.

Die Leuchtturmprojekte zahlen ohnehin Mäzene. In der Istiklal Caddesi, der Fußgängerzone im Stadtteil Pera, wurde hinter der Fassade eines Jugendstilhauses ein sechsstöckiges Zentrum für Musik, Tanz und bildende Kunst eingerichtet. Direkt gegenüber eröffnete die Industriellenfamilie Koc ihr neues Museum für zeitgenössische Kunst mit der Ausstellung "Starters" – gezeigt werden unter anderem Arbeiten von Joseph Beuys und Karin Sander. Das nahe Museum Istanbul-Modern wurde von der Unternehmerdynastie Eczacibai finanziert.

Als besonderer Glanzpunkt des Kulturhauptstadtjahrs galt die Eröffnung des "Museums der Unschuld". Ein altes Bürgerhaus im Herzen Istanbuls soll gefüllt werden mit Utensilien, die im gleichnamigen Roman von Orhan Pamuks eine Rolle spielen, sein Buch auf diese Weise begehbar werden. Im Frühjahr stieg der bekannteste türkische Schriftsteller aus dem öffentlichen Projekt aus. Von Anfang an hatte sich Neid in der Kunst- und Literaturszene geregt: Wieso muss der Staat einen wohlhabenden Nobelpreisträger bezuschussen? Jetzt finanziert Pamuk den Umbau des Hauses komplett aus eigener Tasche, die 350 000 Euro Zuschuss zahlte er zurück. Der Schriftsteller will für sein Museum der Unschuld niemandem etwas schuldig bleiben.

Als "inspirierendste Stadt der Welt" werde sich Istanbul auf der weltweiten Kulturbühne präsentieren, versprachen die Verantwortlichen vor der offiziellen Eröffnung. "Wir werden zeigen, dass Istanbul eine durch und durch europäische Stadt ist, natürlich mit seinen eigenen Traditionen." Die Fremdenverkehrsbranche hoffte auf bis zu zehn Millionen Besucher in der Stadt, 2,5 Millionen mehr als 2009. Kulturtouristen sind heiß begehrt – sie geben dreimal so viel Geld aus wie der Durchschnittsurlauber. Aber auch diese Hoffnung scheint sich nicht zu erfüllen: Die Zahl der ausländischen Besucher ist in den ersten vier Monaten dieses Jahr um gut sechs Prozent gesunken.

Abschreckend wirken die Probleme am Bosporus dennoch nicht. Andere türkische Städte hoffen, in den nächsten Jahren als Kulturhauptstadt auf sich aufmerksam machen zu können. So kündigte die uralte Stadt Mardin in Südostanatolien eine Bewerbung an. Um Mardin für die Bewerbung aufzuhübschen, sollen erst einmal die Bagger ans Werk gehen: 800 hässliche Betongebäude werden abgerissen.

Autor: Petra Kistler

Link: http://www.badische-zeitung.de/ausland-1/wo-geht-es-hier-zur-kultur--31647513.html

Hiç yorum yok: